Interviews
18.10.2017 Julia Nemesheimer  
Nicholas Müller

"Meine Angst ist wie eine Narbe"

​Nicholas Müller wurde bekannt als Sänger der Band Jupiter Jones und hat musikalisch nach seinem Ausstieg eine neue Heimat bei von Brücken gefunden. Seine jahrelange Angststörung hat er in dem Buch "Ich bin mal eben wieder tot" thematisiert. Im Vorfeld seiner Lesung in Saarbrücken hatte hunderttausend.de die Möglichkeit, mit ihm darüber zu sprechen.

 
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hunderttausend.de: Vielen Dank zunächst einmal für das Buch selbst. Wie kam es dazu, dass du dich überhaupt als Autor versuchen durftest?


Nicholas Müller: Dürfen ist eine gute Frage. Die Idee, ein Buch zu schreiben, hab ich schon seit 25 Jahren. Damals hab ich von meinem Onkel eine Schreibmaschine geschenkt bekommen und der Wunsch war da, das zu machen. Nach meinem Ausstieg bei Jupiter Jones war es so, dass ich ja viel über das Thema gesprochen habe und die Verlage kamen auf mich zu. Im Endeffekt wurde es Knaur. Für die war es okay, dass ich so schreibe, wie ich es geschrieben habe. Denn es sollte kein Sachbuch und keine Autobiographie, sondern eher eine Mischung aus beidem werden.


War es nicht seltsam für dich fast schon einen Seelenstrip hinzulegen?


Ganz hundertprozentig ist es das ja nicht geworden, denn Angst hat immer einen sehr tiefliegenden Ursprung. Den verrate ich auch nicht, stattdessen ist es mehr die Geschichte aus der Zeit, in der ich Angst hatte. Und daher ist es für mich auch kein richtiger Seelenstrip. Aber man kann es natürlich so interpretieren.


Wie lange hast du an dem Buch geschrieben?


Von dem Zeitpunkt an dem beschlossen wurde, dass ich ein Buch schreibe, bis zu dem Punkt als es in den Druck gegangen ist, hatte ich eigentlich ein Jahr lang Zeit. Im Endeffekt habe ich aber nur die letzten drei Monate daran geschrieben. Für mich hat das am meisten Sinn gemacht. So konnte ich selber im Thema bleiben und wenn ich das über ein ganzes Jahr gestreckt hätte, hätte es vermutlich nicht gut funktioniert. Also drei Monate, die dann aber mit Power.


Das Thema „ein Buch schreiben“ ist ja damit von der Bucket-List gestrichen. Ist das damit für dich abgehakt oder würdest du deine Karriere als Autor gerne weiter vertiefen?


Oh, das will ich unbedingt. Als nächstes will ich gerne ein Kinderbuch schreiben, da hab ich auch schon eine gute Idee für. Danach ein Jugendbuch, weil ich die selbst immer noch gerne lese. Und so ein richtiger Roman, das wäre auch was. Das wird dann sicherlich auch derbe Kost, weil ich das privat ziemlich mag. Ich sag also mal, da kommt noch was. Was schreiben werde ich in jedem Fall, ob das dann veröffentlicht wird, das sehen wir dann.


Wenn du selbst sagst, du liest sehr viel, woran sitzt du aktuell?


Gerade ein Jugendbuch, das heißt „Eine wie Alaska“ (von John Green, A.d.R.) und eine Briefsammlung von Harry Rowohlt, „Nicht weggeschmissene Briefe“.


Bist du dann jemand, der oft mehrere Bücher parallel liest?


Ja, ganz oft. Ich hab auch klassisch Toilettenlektüre und solche Geschichten. Ich kauf immer ein Buch, wenn ich das interessant finde, das liegt dann verpackt im Regal, manchmal für Jahre, bis ich es wiederentdecke. Aber Bücher kann man ja nie genug haben und eigentlich immer kaufen.


Also bist du eher der analoge Leser?


Ich find kindle oder solche ebook-Reader ganz furchtbar! Wenn ich jetzt nicht gerade auf Weltreise gehe und deswegen zehn Bücher mitnehmen muss, dann pack ich doch das eine Buch eben in den Rucksack. Solang das nicht gerade „Unendlicher Spaß“ (von David Foster Wallace, mit 1552 Seiten, A.d.R.) ist, das vermutlich eh keiner zu Ende liest, sollte das ja kein Problem sein. Ich brauch einfach was in der Hand, das Papier, die Flecken, die Knicke. Ich mach zwar keine Eselsohren rein, aber gelesen und abgenutzt sehen meine Bücher schon immer aus.


Gibt es, um wieder zum Thema Angst zurückzukommen, Bücher, die du da empfehlen würdest?


Es gibt ja viele Ratgeber, darunter auch viele tolle Werke. Es gibt „Das Angstbuch“ von Borwin Bandelow, der ist ein ganz bekannter Psychiater, der sich der Angst verschrieben hat. Im Buch lernt man viel über die Prozesse der Angst, es ist ein bisschen oldschool, aber das finde ich auch wichtig. Man sollte aber immer bedenken, dass es zwar tolle Ratgeber gibt, aber das ist nicht die ultima ratio. In den meisten Fällen ist das nicht die Lösung. Man kann diese Werke nutzen, um sich über die Krankheit zu informieren, sie kennenzulernen, aber wichtiger ist es, sich dann auch in Therapie zu begeben.


Jetzt ist es ja so, dass es bis zur Therapie oft ein weiter Weg ist. Am Anfang steht man oft komplett ratlos da, eine meist langwierige Odyssee durch etliche Arztpraxen steht an, es wird getestet und geprüft, bis dann irgendwann kommt „Haben Sie schon mal daran gedacht, dass Ihre Beschwerden psychischer Natur sein könnten?“ und man schließlich beim Psychiater landet. Gibt es eine Erleichterung oder Hilfe in und bei diesem Weg, die du empfehlen würdest?


Es ist schon wichtig, dass dieser Marsch durch die medizinischen Instanzen da ist, das ist nicht zwingend verkehrt. Es könnte ja tatsächlich etwas Körperliches vorliegen, das da gefunden werden kann. Wenn dann aber die Diagnose gestellt ist – und das sage ich jetzt nicht nur, weil ich mit ihr verbandelt bin, sondern weil sie einfach einen großartigen Job machen - dann empfehle ich die Deutsche Angstselbsthilfe (DASH). Der Verein sitzt in München, betreut über hundert Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland und bietet viele Informationen auf der Webseite an, daneben gibt es auch eine Hotline, bei der man anrufen kann. Das ist definitiv eine Anlaufstelle. Ich mein, wir haben ein tolles Gesundheitssystem, den Menschen wird geholfen und es ist an vielen Stellen nicht amerikanisch, aber es fehlen einfach Ressourcen was seelische Leiden angeht. Man wartet oft über ein halbes Jahr auf eine probatorische Sitzung beim Therapeuten und das kann eigentlich nicht sein. Wenn man sich die Zahlen vor Augen führt – 10 Millionen Angstkranke plus Dunkelziffer, die vermutlich hoch ist, weil die Krankheit einfach so schambehaftet ist – und dann wartet man ein halbes Jahr auf eine Probesitzung. Das darf eigentlich gar nicht sein. Ich mein, ich wohn in Münster, da gibt es den Studiengang Psychologie und die Hörsäle sind jedes Jahr proppenvoll. Da kommen Leute raus, die qualifiziert sind und die bleiben ja nicht alle in Münster. Es wäre einfach wichtig, dass jeder ohne Anträge, ohne die ganze Krankenkassenbürokratie zum Psychologen gehen könnte, damit schnell geholfen wird.


Vor kurzem habe ich in einem Spiegel-Artikel über Erste-Hilfe-Kurse für psychische Leiden gelesen. Die gibt es in verschiedenen Ländern, sind aber bisher noch nicht in Deutschland angekommen. Für wie sinnvoll erachtest du solche Kurse?


Meiner Meinung nach sollte sowieso jeder die Möglichkeit haben, seine seelischen Probleme an Menschen heranzutragen, ohne sich dabei Gedanken zu machen, dass er jetzt etwas auf anderer Leuts Schultern legt. Es ist gut zu wissen, dass es Leute gibt, die sich das als Beruf ausgesucht haben und die darin ausgebildet sind. Bei mir zu Hause liegt zum Beispiel ein Zertifikat herum, das mir bescheinigt, dass ich ein „Heilpraktiker für Psychotherapie“ bin. Ich werde niemals praktizieren, ich hab das nur gemacht, damit ich weiß, was mit mir los ist, um das zu lernen und was ich machen soll, wenn andere Leute um mich herum abschmieren. Denn das passiert ständig, andauernd und darum wären solche Kurse wichtig.


Wäre das etwas, was dann auch etwa von der Deutschen Angstselbsthilfe angeboten werden würde?


Das machen die schon seit Jahren. Ich will da gar nicht zynisch werden, aber die betreuen über hundert Selbsthilfegruppen, die machen das alles publik, die publizieren auch die DAZ, die Deutsche Angst-Zeitschrift, die einmal im Monat raus kommt. Das sind drei Leute im Büro und sie scheitern bei jeder Jahresabrechnung an einer Hürde, die lächerlich ist. Wir haben mal auf einer Gala der Aids-Hilfe gespielt und ich glaube, da hat der Sektempfang mehr gekostet, als diese finanzielle Hürde, an der die DASH scheitert. Dabei ist ja der Bedarf da! Aber die Scham ist immer noch so groß! Und sobald die weg ist, dann könnten wir das hinbekommen. Dabei ist das ein Urinstinkt, die Angst. Dass darüber niemand spricht, ist wirklich traurig.


Man sollte also in erster Linie spenden, um diese paar Leute, die natürlich viele freiwillige Helfer haben, zu unterstützen.


Unbedingt. Für die Arbeit, die hier geleistet wird und gemacht werden muss, müssten eigentlich zwanzig Leute in dem Büro sitzen und nicht nur drei. Es wäre einfach schön zu wissen, dass diese Menschen am Schluss nicht mit einem riesigen Fragezeichen da sitzen.


Inzwischen geht es dir ja auch wieder besser, soweit man das mitbekommt. Kann man von Heilung sprechen oder siehst du es eher als ein „Es ist erträglich und weniger geworden, ich weiß, wie ich damit umgehen muss und komme damit klar“?


Ich setz das gleich. Es gibt Leute die inzwischen angstfrei leben. Für mich ist die Tatsache, dass ich ein ganz normales Leben führen kann und an schlechten Tagen mal eine Panikattacke bekomme, ein Gefühl von gesund. Ich vergleiche das immer mit einer verheilten Narbe. So eine große OP-Narbe, die ja auch hin und wieder juckt oder wehtut, wenn sich das Wetter ändert. Und so ist das mit meiner Angst.


Jetzt bist du mit deinem Buch auf großer Lesetour und wochenlang unterwegs. Wie laufen deine Lesungen ab? Immer nach dem gleichen Schema?


Ja, eigentlich schon. Ich lese ja gute zwei Stunden, da braucht man eine feste Abfolge, sonst wird man ganz rammdösig. Allerdings, und das sage ich immer ganz zu Anfang, ist mir bewusst, dass Leute kommen, die selbst betroffen sind und ich möchte, dass Fragen gestellt werden. Gerade wenn man sich zum ersten Mal mit dem Thema auseinandersetzt, dann kommen solche Fragen auf und die sollen dann auch direkt beantwortet werden.


Zum Schluss noch ein kurzer Exkurs zu deiner, inzwischen nicht mehr ganz so neuen, Band: Wann können wir uns auf neues Material von von Brücken freuen?


Wir machen so schnell wir können und es wird im Laufe des nächsten Jahres ein neues Album kommen. Wir haben Bock und viele gute Ideen. Auch wenn ich gerade auf Lesetour bin, sitzt Tobi im Studio und arbeitet an den Songs, wir stehen da auch ständig im Austausch. Also es läuft und so bald wie möglich kommt dann neue Musik mit dazugehöriger Tour.


Herzlichen Dank für deine Zeit und viel Erfolg mit der Lesetour sowie dem kommenden Album!


Nicholas Müller macht auch in Trier Halt. Am 25. Oktober 2017 liest er im Kasino Kornmarkt. Noch gibt es einige Karten für die Veranstaltung.


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