Rheine 1999. Eine mehr oder minder verschlafene Kleinstadt an der Ems, nahe Münster und knapp eine halbe Stunde Autofahrt von Holland entfernt. Mit Anfang Zwanzig wohnt Nagel hier in einer WG mit zwei Freunden, die Wohnung mutiert zum Treffpunkt für ihren Freundeskreis, bierselige Abende mit den ein oder anderen Drogen, Konzerte, die im Abriss enden und Partyabende in den örtlichen Clubs und Kneipen. Für Nagel dominieren in dieser Zeit jedoch eher Liebeskummer, auf die Probe gestellte Freundschaften und das berauschende Gefühl einer neuen Liebe. Einziges Problem: So richtig deutlich ist die Erinnerung an diesen Sommer 1999 irgendwie nicht mehr, eher als wäre sie ausradiert worden. Und auch wenn die Probleme und Ängste damals überpräsent waren, so sind sie im Laufe der Jahre doch arg in den Hintergrund gerückt.
Vielmehr durch Zufall wird das Interesse von Nagelschmidt an diesen Monaten wieder geweckt. Im Gespräch mit Sascha, einem alten Freund, kommen beide durch Zufall auf das Thema und man beginnt, in der Vergangenheit zu wühlen. Ausgangspunkt sind dabei die Tagebücher, die Nagel selbst führte und immer noch Kladde um Kladde füllt. Dabei sind diese Einträge naturgemäß fragmentarisch, voller Übertreibungen und der Fokus liegt nicht selten auf Aspekten, die im Nachhinein niemanden mehr interessieren. Darum heißt es: weiterbohren. Was läge dabei näher, als die Leute von damals zu besuchen, sich an ihren Erinnerungen zu laben und daraus ein neues Gesamtbild zu schaffen? Thorsten Nagelschmidt geht auf eine Reise zurück in diesen Sommer, zurück zu den Leuten von damals und zurück zu seinem Selbst und dem Leben 1999.
Nagelschmidt beginnt sein Buch mit dem Ende, teilt es weiter auf in Anfang und Splitter. Dabei vermischt er die Geschichte von jenem Sommer mit seiner Jagd nach Erinnerungen im Jahr 2015. Er selbst fasst seine Suche zusammen mit: "Ich muss noch mehr Leute treffen, noch mehr Orte aufsuchen, noch mehr sammeln. Meine Vergangenheit, sie soll niemals aufhören." Und während man den Nagelschmidt von heute bei seiner Reise begleitet, bekommt man einen Eindruck von seiner Manie, mit der er versucht, diese Monate zu rekonstruieren. Die Personen der Geschichte trifft man in der Gegenwart wieder und es ist ein bisschen so, als würde man selbst alte Bekannte wieder treffen und erfahren, was aus ihnen geworden ist, nachdem man sie lange Zeit nicht gesehen hat.
Der spannendste Part von Der Abfall der Herzen ist die Vergangenheit, auch wenn es, wie bereits im Tagebuch vermerkt, "um nicht anderes als Beziehungs- und Gefühlskram" ging. Doch da die Erinnerung ein sprödes, unzuverlässiges Ding ist und mit jeder Person zwar ein neuer Baustein hinzukommt, wird das Bild doch oftmals eher unschärfer als deutlicher. Zu viele Köche verderben den Brei, denn alle erinnern sich anders. Ein Problem, das auch Nagelschmidt erkennt und sich so zwar für einen autobiographischen Roman entschieden hat, doch festhält: "Wenn ich der Wahrheit näher kommen will, muss ich sie erfinden. Die Phantasie als Kitt, der eine Geschichte zusammenhält."
Die knapp 450 Seiten lesen sich flüssig, die Beobachtungen und Dialoge sind so formuliert, das man fast das Gefühl hat, ebenfalls mit in der WG-Küche zu sitzen und gleich einen Zug vom Joint oder ein halbes Toast aus dem Sandwichmaker zu bekommen. Während man sich in das Leben der Clique aus Rheine reinliest, fragt man sich zwischendurch, wie das damals bei einem selbst war. Mit Anfang 20, die Leute von damals, die man aus den Augen verloren hat und was sie wohl inzwischen machen? Eine Art Roadtrip in die Vergangenheit, sowohl in die von Nagel als auch in die eigene. Man fühlt sie wieder, die Teenage-Angst, die Träume, Wünsche und Hoffnungen von damals aber auch die Verzweiflung und der Schmerz der ersten großen Trennung. Die durchsoffenen WG-Abende und der Morgen danach. Die Erinnerung ist sicherlich verwischt, aber manchmal ist die erfundene, an die Wahrheit angelehnte Retrospektive doch ohnehin die bessere Reminiszenz.
Thorsten Nagelschmidt liest am 27. April 2018 in der Camera Zwo in Saarbrücken. Tickets gibt es für 15 Euro im Vorverkauf. Ursprünglich sollte die Lesung in Trier im Exhaus einen Tag später folgen, doch sie muss auf den 13. November 2018 verschoben werden. Bereits gekaufte Karten behalten ihre Gültigkeit, können aber auch an den Vorverkaufsstellen zurückgegeben werden.
Thorsten Nagelschmidt, Der Abfall der Herzen. Fischer Verlag, 448 Seiten, Hardcover. 22 Euro. Das Buch ist auch als Hörbuch für 18,99 Euro erhältlich.