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25.10.2021 Jana Ernst  
Aufzeichnungen

"Schreiben ist gut gegen den Unfug."

​​​Aufzeichnungen, das neue Stück des Künstler*innen-Kollektivs bühne1, hat am Donnerstag das Festival "Trierer Unterwelten" eröffnet. hunderttausend.de war dabei, als sich den Zuschauer*innen lokale wie mentale Abgründe eröffneten. 

 
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Foto: Blackgate Media

​"Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" ist einer der bedeutendsten Romane des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski​. Häufig wird er auch als der erste existentialistische Roman bezeichnet und fand aufgrund seiner psychologischen Dimension großen Anklang zum Beispiel auch bei Friedrich Nietzsche. Zuletzt nahm sich nun das Trierer Künstler*innen-Kollektiv bühne1​ des literarischen Stoffes an und entwickelte daraus die Inszenierung "Aufzeichnungen", die am Donnerstag, 21. Oktober, seine Premiere feierte. Ursprünglich sollte das multimediale Stück bereits im vergangenen Jahr aufgeführt werden, fiel aber der Corona-Pandemie zum Opfer. In diesem Herbst finden die Aufführungen nun im Rahmen des Festivals "Trierer Unterwelten​" statt, das mit der Premiere von Aufzeichnungen zugleich seinen eigenen Auftakt feierte. Sei es Zufall, Schicksal oder sorgfältige Planung, Aufzeichnungen fügt sich sowohl inhaltlich als auch anhand seiner Location perfekt in die Unterwelt-Thematik ein.

Aufzeichnungen wird im ehemaligen Restaurant Historischer Keller, im Gewölbekeller des alten Karstadt in der Simeonstraße, aufgeführt. Der Weg zur Spielstätte führt die Zuschauer*innen also physisch in die Trierer Unterwelt und bereitet sie zugleich auf den Abstieg in die psychischen Abgründe von Dostojewskis namenlosem Protagonisten vor. Im weitläufigen Gewölbekeller herrscht eine beinahe mittelalterliche Atmosphäre vor, beeindruckend auf der einen Seite, leicht bedrückend auf der anderen Seite. Vor allem aber ist es kühl dort unten – so kühl, dass es gar nicht erst eine Garderobe gibt. Frostbeulen (wie die Autorin) sollten sich dadurch aber nicht von einem Besuch abbringen lassen: Dank der ausgelegten Decken kann sich jede*r warm halten. Körperlich zumindest, mental sieht das für die eine oder den anderen vielleicht etwas anders aus. Wer vertraut ist mit Dostojewskis Werk, der wird es erwarten; wer nicht, der wird es schnell lernen: Kurzweilige Unterhaltung ist dieser Abend nicht. Vielmehr fordert sich Aufzeichnungen zu jeder Zeit die volle Konzentration der Zuschauer*innen ein, präsentiert sich vielschichtig und hochkomplex. Ein Umstand, der durch den multimedialen Charakter der Inszenierung effektiv und professionell herausgearbeitet und unterstrichen wird. Das Zusammenspiel aus Sprechtheater, Film und Installationskunst ist perfekt abgestimmt und zu keinem Zeitpunkt unpassend oder schlecht im Timing. Ganz im Gegenteil, ermöglicht die formale Komplexität eine Quasi-Erweiterung der Theaterbühne, die notwendig scheint, um die Form des Stücks auf eine Ebene mit dem Inhalt zu bringen.

Zu Beginn des Stücks sinniert der Protagonist, ein namenloser Beamter, alleine in seiner Kellerwohnung über seine unglückliche Situation, die eigentlich sein Leben im Ganzen zu betreffen scheint, und über den Zustand der Gesellschaft. Er wirkt dabei wirr, voller Widersprüche und der Realität leicht entrückt. Als er sich im zweiten Teil des Stücks den namensgebenden Aufzeichnungen aus seinem Leben widmet – das Aufschreiben, so erklärt er, sei gut gegen den Unfug in seinem Kopf – wird immer deutlicher, dass er jederzeit auf einem Grat balanciert zwischen Illusion und Aggression, sich entweder völlig verloren oder unpassend aufbrausend durchs Leben bewegt. Immer wieder setzt er sich selbst wissentlich derart destruktiven Situationen aus, dass sein Verhalten schon an Selbstverletzung grenzt. Seine innerliche Fragmentierung spiegelt sich auch in der mehrfach wechselnden Besetzung wider: Sowohl psychisch als auch für die Augen der Zuschauer*innen ist er immer wieder ein anderer.

Aufzeichnungen dreht sich permanent – um seinen Protagonisten, im Inhalt und in der Besetzung. Das Stück hat keinen Anfang und kein Ende, ist ähnlich verwirrend wie das Leben selbst, teils unangenehm, teils aufreibend, unklar und verworren. Es wirft, alles in allem, mehr Fragen auf, als es beantwortet und ist gerade deshalb so sehenswert.


"AUFZEICHNUNGEN" IM ÜBERBLICK

  • Wann? 
    • 26. (ausverkauft!) / 27. (ausverkauft!)​ / 29. / 30. / 31. Oktober 2021, jeweils um 20:​00 Uhr
  • Wo? 
    • ehemaliges Restaurant „Historischer Keller“, Simeonstraße 46
  • Kosten
    • 15,oo Euro (11,00 ermäßigt)
  • Ermäßigung
    • für Schüler*innen, Studierende, Auszubildende, Freiwilligendienstleistende, erwerbslose und behinderte Menschen
  • Tickets




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