Interviews
20.06.2017 Vincenzo Sarnelli Veranstalter
Interview mit Dirk Hense von nestwärme e.V.

Zeit schenken

Der nestwärme e.V. Deutschland engagiert sich für Familien, in denen schwerstkranke oder behinderte Kinder zu Hause betreut werden. Und das mittlerweile in elf Städten in ganz Deutschland. Nun will der Verein mit Hilfe des neuen Portals meine-nestwaerme.de noch mehr Familien helfen. hunderttausend.de sprach mit Dirk Hense vom nestwärme e.V. darüber, wofür das Portal gedacht ist und wie es funktioniert. 

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​hunderttausend.de: Herr Hense, worum geht es bei www.meine-nestwarme.de?

Dirk Hense: Es geht um das bereits bestehende Ehrenamtsprojekt „ZeitSchenken“, das wir deutschlandweit praktizieren und jetzt digitalisiert haben. Das Projekt, das auch mehrfach prämiert wurde, haben wir mittlerweile in elf Städten in Deutschland installiert. Das Hauptanliegen von nestwärme e.V. Deutschland ist es, die Bedürfnisse von Familien mit kranken und behinderten Kindern, die nicht im Heim, sondern zuhause leben, zu erfassen und mit den Spendengeldern und anderen Ressourcen in Projekte und Programme umzuwandeln, die diese Familien entlasten. Und Entlastung ist auch beim Projekt Zeitschenken das richtige Stichwort. Die Zeitschenker, die Ehrenamtlichen, die tatsächlich ihre Zeit den Familien schenken, haben bei uns drei unterschiedliche Bezeichnungen.
 
Gekoppelt an das, was Sie leisten können?
 
Genau. Es sind drei Formen des Engagements möglich. Zum Einen Familienpaten und Kompetenz- oder Talentschenker. Familienpaten heißt, es geht jemand der geschult ist und betreut wird von uns, regelmäßig in eine Familie und entlastet dort entweder in dem er sich mit dem betroffenen Kind, mit den Eltern oder mit dem Geschwisterkind auseinandersetzt. Es ist aber in keinem Fall auf die Pflege eines Kindes bezogen. Sondern auf die Gestaltung des Alltags mit Entlastungsoption. Das führen wir momentan in den elf Städten durch. Wir haben aber natürlich auch aus anderen Regionen und Städten Anfragen von Familien, die Unterstützung benötigen. Die auch Entlastungsformen brauchen, zum Beispiel von einem Kompetenzschenker, der Möbel mit aufbaut oder den Gartenzaun streicht. Nachdem wir dann auf einem Kongress einen ehemaligen Programmierer von Intel kennen gelernt haben, haben wir mit ihm zusammen dieses Projekt auf eine Online Plattform gebracht. Wir haben dieses Grundgerüst, das wir mit ihm zusammen erstellt haben dann auf unsere Bedürfnisse und die der Familien angepasst. Das Projekt ist rein spendenfinanziert und konnte innerhalb von 12 Monaten online gehen.

Wie ist dieses Portal strukturiert?
 
Es gibt zwei Komponenten. Die erste ist, dass eine Familie individuell und punktuell wie sie es braucht, ihre Entlastungsbedürfnisse einstellen kann über eine Eingabemaske. Wenn wir das dann freigeben, wir müssen nämlich gewährleisten, dass es auch eine Familie ist, die diese Art der Hilfe auch nutzen darf, können dann regional nahe Zeitschenker und Ehrenamtliche dieses Projekt sehen und darauf reagieren, in dem sie der Familie helfen. Diese Personen werden auch im Vorfeld validiert. Das machen wir in dem die einen Fragebogen ausfüllen müssen. Ein Hauptkriterium für das Matching dieser beiden Parteien ist dabei sicher die geographische Nähe, damit das Projekt überhaupt realistisch umsetzbar ist. Die zweite Komponente ist, daraus entstanden, dass viele Leute sich bei uns melden und sagen, dass sie vielleicht nicht die Zeit finden tatsächlich sich einmal die Woche zu engagieren, aber trotzdem bei und mit ganz konkreten Dingen helfen wollen. Und auch diese Formen des Engagements können alle auf dieser Seite meine-nestwaerme.de eingebracht werden. So kann jeder nach seinen Kompetenzen und Talenten sein Stück Engagement einbringen und finden. Im Fokus stehen aber natürlich trotzdem die Familien und ihre Bedürfnisse.
 
Was wären denn konkrete Beispiele, was man einbringen kann?
 
Zum Beispiel Sportaktivitäten oder Ausflüge mit den betroffenen und nicht betroffenen Kindern oder aber auch wenn die Eltern sagen, dass sie mal jemanden braucht der hilft das Kinderzimmer neu zu streichen. Das sind alles Aktivitäten die greifen können. Das ist alles weit weg vom Thema Pflege. Es kann auch sein, dass die Mutter sagt, sie kommt nicht aus dem Haus und braucht einfach mal jemanden zum reden und Kaffee trinken. Das findet nämlich auch oft statt, dass die Familienmitglieder in eine Art soziale Isolation kommen, weil sie zeitlich nicht flexibel sind, oder die notwendige Mobilität fehlt. Natürlich haben wir auch Fälle, wo Zeitschenker drei Stunden zum Kaffee fahren und sich die Eltern mal alles von der Seele reden können. Oder wenn Möbel transportiert oder allgemein Dinge organisiert werden müssen, dann sind das Dinge, die Ehrenamtliche erledigen können oder Hilfe leisten können. Das ist sehr breit gefächert und interveniert überhaupt nicht in das Thema Pflege.
 
Was muss man als Zeitschenker denn mitbringen? Was sind dort die Voraussetzungen?
 
Im Prinzip kann da jeder in sich hinein schauen und überlegen, was er für Talente und Kompetenzen zur Verfügung stellen. Wenn ich zum Beispiel Musiklehrer bin, dann kann ich einmal die Woche eine Klavierunterrichtsstunde geben. Wenn ich den grünen Daumen habe und ich kann anbieten den Rasen zu mähen oder das Blumenbeet her zu richten. Natürlich geht es dabei nicht um haushaltsnahe Dienstleistungen. Es ist keine Babysitterbörse oder Minijobportal. Der Fokus liegt klar auf den Familien die betroffen sind und einfach Hilfe benötigen.
 
Wenn ich selbst aktiv werden will oder eine Familie bin, die Entlastung braucht, dann gehe ich auf www.meine-nestwaerme.de und finde dort das Portal. Wie gehts dann weiter?
 
Im ersten Schritt muss man sich erstmal anmelden. Im nächsten Schritt kommen wir in das Thema Validierung. Die Personen müssen dann eine gewisse Anzahl an Daten eingeben. Bei den Familien wären das zum Beispiel Name und Alter des betroffenen Kindes, oder die Beantwortung der Frage nach dem genauen Entlastungswunsch und Adressdaten, damit das Postleitzahlen-Matching funktionieren kann. Wir haben dann hier eine Checkliste mit der wir das Profil betrachten. Wenn wir das dann frei gegeben haben, dann kann die Familie das Projekt einstellen. Es geht dabei aber nicht darum, dass die Familie dreimal die Woche eine Reinigungskraft braucht. Sondern eher, dass die Familie einmal im Monat den betagten Rentner mit dem grünen Daumen. Wir geben die Projekte dann auch nochmal frei. Danach sind die dann sichtbar für alle auf dem Portal.
 
Die Kommunikation zwischen den Parteien erfolgt dann sofort?
 
Ja. Wir sind quasi nur die Verbindung, das Matching,  zwischen den beiden Parteien, den Familien und den Ehrenamtlichen. Wie die Parteien dann diese Kontaktchance  dann mit Leben füllen, das liegt nicht mehr bei uns. Genauer gesagt, die Betreuung der Parteien können wir es als Organisation nicht deutschlandweit nicht leisten. Hier ist die Eigenverantwortung und Initiative der Parteien gefragt.

Abschließend: Was sind denn ihre Ziele die Sie mit diesem Portal erreichen wollen?
 
Wenn wir über quantitative Ziele reden wollen, ist es sicher, dass wir möglichst viele betroffen Familien entlasten möchten. Und das nicht dort, wo wir bereits aktiv sind.. Wir würden gerne Familien auch dort unterstützen und ihnen die Strukturen anbieten, die so gut funktionieren, wo wir heute noch nicht regional vertreten sind. Der Bedarf ist nämlich hoch. Qualitative Ziele sind dann entsprechend, für die Familien ein entsprechendes Maß an Selbstbestimmtheit ermöglichen. Inklusion heißt nicht, dass man eine Entlastung als Familie nicht immer vorgegeben bekommt, sondern sie selbstbestimmt formulieren kann. Was wäre für eine Familie der beste Ort, die beste Zeit und die beste Art und Weise um eine Entlastung wahrzunehmen. Es ist nicht von oben aufoktroyiert. Eigenständig und Selbstbestimmt. Auf der Ehrenamtsseite hat es sicher auch mit einem gewissen Maß der Berücksichtigung der eigenen Lebensumstände zu tun. Viele Leute sind heute digital unterwegs. Zum Beispiel ein Student, der in diesem Jahr wenige Kurse hat, aber im nächsten Jahr im Ausland ist, und deshalb keine feste Verbindung in einem Ehrenamt eingehen will oder kann. Oder zum Beispiel die Generation, wo die Kinder aus dem Haus sind, aber die Enkelkinder noch nicht da sind, und somit zeitliche Ressourcen vorhanden sind.. Es geht um die Wahrnehmung von punktuellem Engagement, zugeschnitten auf mein Leben und eine sehr schnelllebige Zeit.
 
Herr Hense, ich hoffe, Sie haben mit diesem Portal sehr viel Erfolg. Eine wichtige Sache, die mit wenig Aufwand verbunden ist. Vielen Dank für das informative Gespräch. 


Foto: nestwärme e.V.

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