Interviews
29.04.2017 Vincenzo Sarnelli Veranstalter
Julia Engelmann im Trifolion Echternach

"In Verletzlichkeit liegt große Stärke"

​Sie gilt als berühmteste deutsche Pop-Poetin. Julia Engelmann ist mit einem viralen Video berühmt geworden. Heute singt sie, trägt Gedichte in großen Hallen vor und gilt als Sprachrohr einer Generation. Wir sprachen mit der Künstlerin über Verantwortung, Kritik und ihren perfekten Tag.

DoxqZWvt7g8
Video

hunderttausend.de: Frau Engelmann, auf Ihrer Homepage heißt es, wenn man sie aufruft: „Hey, Ich bin Julia Engelmann“. Aber wer ist denn nun Julia Engelmann?

Julia Engelmann: Ich bin auch noch dabei das rauszufinden. Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, was ich so mache, dann sage ich, ich bin Vollzeit-Poetin.
 
Sie gelten als Pop-Poetin, tragen in ihren Texten Gedanken und Gefühle von sich vor. Wie vermeiden Sie den oft zitierten Seelenstriptease?
 
Ich weiß gar nicht ob es das überhaupt gibt und wenn, ob es den zu vermeiden gilt. Ich empfinde mich selbst auch wie so ein Eisberg, bei dem ich nicht immer alle Teile sofort sehe. Ich empfinde es als was sehr Schönes sich anderen Menschen zu öffnen. Und ich finde es auch schön, wenn sich andere Menschen dann mir gegenüber öffnen. In Verletzlichkeit liegt eine große Stärke und Chance auf Gemeinschaft. Ich empfinde das auch als etwas Notwendiges.
 
Macht man sich damit nicht auf einer Ebene angreifbarer, die einen persönlicher trifft, weil es eben um Empfindungen geht, die kein anderer Mensch eigentlich beurteilen kann? Macht es das schwieriger mit Kritik umzugehen?
 
Vielleicht macht man sich damit angreifbarer, aber ich mache mich gleichzeitig auch nahbarer. Es kommt ja auch schönes Feedback zurück, oder viele sagen, dass sie es auch so empfinden und verstehen, im Sinne von: „Das betrifft mich auch“. Die Nachteile sind also in gewisser Weise auch die schönen Seiten. Und auf die konzentriere ich mich viel eher. Was Kritik angeht, bin ich Statistik-Fan genug um zu wissen, dass das alles normalverteilt ist. Es gibt Leute, die finden etwas toll, andere nicht und die meisten ein bisschen. Von daher höre ich mir Kritik in erster Linie von Menschen an, die mich gut kennen und die mir viel bedeuten.
 
Sie sind nach dem bekannten Video zu einer Art „Lebensgefühl einer Generation“ geworden. Ist das nicht etwas viel Verantwortung, als Sprachrohr einer Generation zu gelten?
 
Ich empfinde diese Verantwortung in erster Linie für mich selbst und die Menschen in meinem Alltag um mich herum. Ich denke, ich bin mein eigenes Sprachrohr, so wie Sie ein eigenes Sprachrohr sind. Und zusammen sind wir Teil einer Generation und einer Gesellschaft.
 
Beschäftigt Sie das dann auch beim Schreiben? Also die Situation, dass ihre Worte dementsprechendes Gewicht haben.
 
Ich denke wirklich nicht darüber nach (lacht). Es geht mehr darum, was mich beschäftigt, was meine Fragen sind. Was sind Dinge, die ich nicht weiß oder gerne besser könnte? Das ist eine Auseinandersetzung mit mir in diesem Moment.
 
Grade die Generation, der Sie angehören, werden heutzutage ziemlich viele Dinge nachgesagt. Zum einen suchen viele nach persönlicher Stabilität, zum anderen heiraten so wenige Menschen wie je zuvor. Auf der einen Seite ist für viele heute ein guter Job und finanzielle Absicherung wichtig, aber gleichzeitig hat man den Eindruck, dass der Freiheitsdrang, der Drang aus dem Alltag auszubrechen nie größer war. Leben Sie in einer Generation des Zwiespalts?
 
Ich glaube, wir leben alle grade in so einer Zeit, in der so viel möglich ist. Es gibt nicht mehr nur zwei mögliche Lebensentwürfe, die man vor sich hat. Es ist ein unendliches Universum von Lebenswegen, die man gehen kann. Und um zu einer Sache Ja zu sagen, muss man zu wahnsinnig vielen anderen Dingen Nein sagen. Mir geht es zumindest so. Es ist also gleichzeitig alles möglich und das meiste auch wieder nicht. Das ist der Spagat und die Balance, die es zu finden gilt. Eine besondere Zeit um sein Leben zu gestalten.
 
Mehr Chancen und Möglichkeiten bedeuten dann auch gestiegene Erwartungen, oder? Im Sinne von: „Die Welt liegt dir zu Füßen, jetzt mach auch was draus“.
 
Ich empfinde das auf jeden Fall so. Es gibt ein starkes Verlangen danach das Richtige zu tun, meine Zeit richtig und gut zu nutzen. Ich vergesse manchmal auch darüber, dass es das objektiv gar nicht gibt und dass auch nicht das Hauptkriterium sein darf. Sondern, dass man innerhalb eines Tages einfach glückliche Momente findet, anstatt den Lebensentwurf des Jahrhunderts hinzulegen. Das ist in etwas so, als würde man einen Muskel trainieren, man muss sich damit viel beschäftigen und am Ende gut loslassen können.
 
Wie sieht denn so ein guter Tag im Leben der Julia Engelmann aus?
 
Unterschiedlich. Aber es gibt ein paar Elemente, die mir gefallen, wenn sie drin vorkommen. Die da wären: frische Luft, Cappuccino, andere nette Menschen, wenn mich jemand anlächelt und ich jemanden anlächele, schöne Musik, die im Hintergrund läuft. Das sind so “schöne Dinge“ (lacht).
 
Ihr Programm heißt „Eines Tages, Baby - Upgrade“ mit dem Sie im Trifolion auftreten. In wie weit braucht denn die Message, die Sie im „One Day / Reckoning Song“-Video auf den Punkt bringen, immer mal wieder ein persönliches Upgrade?
 
Der zentrale Gedanke ist schon das Upgrade schlechthin. Das Beste oder etwas Schönes aus dem Jetzt zu machen und nicht rückblickend denken zu müssen „ach, hätte ich mal“. Da gibt es keine gesteigerte Form von (lacht). Aber ich muss das für mich auf jeden Fall immer mal wieder neu denken, damit ich das nicht vergesse.
 
Vor kurzem posteten Sie auf Facebook ein Gedicht, in dem Sie schrieben, dass für Sie “Erwachsenwerden nicht heißt, dass Sie aufhören müssen ein Kind zu sein“. Glauben Sie, dass Verantwortung für sich und sein Leben übernehmen diesem Gedanken im Weg steht? Grade auch in Bezug auf den zentralen Gedanken ihres berühmten Textes.
 
Ich glaube, dass sich das überhaupt nicht ausschließt. Verantwortung übernehmen kann ja auch eine große Freiheit sein, Gestalter für sein eigenes Leben zu sein. Wenn man zur Schule geht, dann sagt einem jemand, wann man wo sein soll und so. Mit viel Verantwortung bekommt man gleichzeitig viele Privilegien. Ich glaube, wenn man sich traut zu erkennen, wer man ist und was einem wichtig ist, dann ist das eine große Luxussituation.
 
Ein schönes Schlusswort zu einem komplexen Thema. Frau Engelmann, wir freuen uns auf den Auftritt in Echternach und danken für das Gespräch.
 

Foto: Marta Urbanelis

Bildgalerie



Karte anzeigen