Interviews
08.11.2018 Janine Köppel  
Charlie Winston

"Ich schreibe die Songs nicht so sehr, wie Songs mich schreiben"

​​​​​​Am Sonntag, 9. Dezember 2018 macht Charlie Winston auf seiner Europa-Tour Halt in der Rockhal. Mit hunderttausend.de hat er sich vorab darüber unterhalten, was Hut und Anzug für ihn bedeuten und wie ein einziger Song das ganze Leben verändern kann.

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hunderttausend.de: Wie würdest du dein neues Album Square 1 mit nur drei Worten beschreiben?

Charlie Winston: (seufzt) Das ist eine schwierige Frage. Okay, ich sage: verwundbar, hoffnungsvoll und dynamisch.

Wie passt das Album in die Reihe der vorherigen?

Für mich ist jedes Album wie eine Fotografie meines Lebens. Wie ein Fotoalbum. Du hast ein Fotoalbum in deinem Regal, du öffnest es und es erinnert dich an diese Zeit in deinem Leben. Das ist es, was die Alben für mich sind. Kein Bilderbuch, sondern ein Klang, ein Soundbook davon, was in meinem Leben passiert. 

Curio City (Anm. d.​ Red.​: vorheriges Album von 2015) entstand an dem Punkt meines Lebens, an dem ich gerade ein Haus und ein Auto gekauft hatte, mein erstes Kind bekam und all diese Dinge. Ziemlich große Dinge! Ich habe geheiratet... Und ich denke es war eine Kombination aus dem „Sesshaft-sein“, aber auch dem Ringen damit, dieser Mensch zu werden. Denn als Musiker möchte man eigentlich frei sein (lacht). Wenn du dir all diese Sachen zulegst und Verantwortung übernimmst, dann entsteht ein ziemlicher Zwiespalt. 

Aber jetzt bin ich viel sesshafter in meinem Leben und ich denke Square 1 hat diese Stimmung vom Sesshaft-sein. Sesshafter auch im Sinne davon, dass ich nicht so viel Kontrolle über dieses Album zu haben brauchte. Ich konnte mich etwas mehr entspannen. Beim Komponieren und beim Schreiben der Songs hatte ich natürlich die Kontrolle. Aber als es um das Aufnehmen des Albums ging, war ich sehr froh darüber anderen Menschen die Führung überlassen zu können. Ich hatte ein Team von Leuten, die wirklich verstanden haben wohin ich in dem Album gehen wollte. So war es manchmal nicht einmal nötig anwesend zu sein, weil sie wussten, was sie taten. Und sie wussten, dass es nur darum ging, gute Musik zu machen.

In anderen Interviews sagtest du, dass jedes Album für dich wie eine neue Familie ist. Das klingt, als würdest du etwas sehr privates mit sehr vielen Menschen teilen. Du stehst auf der Bühne und zeigst deine „Familie“ vor einem großen Publikum. Wie fühlt sich das an?

Ich denke es fühlt sich an, wie ein Elternteil zu sein. Im Sinne davon, dass du deine ganz persönliche Zeit und sehr besondere Momente bei der Erschaffung der Songs hast - das gleicht der ersten Zeit mit einem Kind. Du bist sehr viel zuhause und du hast all diese wunderschönen und intimen Momente. Es ist eine sehr persönliche Erfahrung. Aber dann, wenn sie älter werden, gehen sie ins Aufnahmestudio: das ist wie eine Schule. Sie werden erzogen und finden im Studio ihre eigene Persönlichkeit. Und dann verlassen sie das Zuhause. Wenn ich auf die Bühne gehe, oder jedes Mal wenn ich eine Platte rausbringe, fühlt es sich für mich im Grunde so an, als würde "mein Kind" gehen. Und in gewisser Weise geht es tatsächlich, um in den Häusern anderer Menschen zu leben. 

Ja, ich denke, es fühlt sich an, wie ein Elternteil zu sein. Es ist ein Prozess des Loslassens. Bei diesen Prozessen geht es aber immer darum, etwas über mich selbst zu lernen. Jeder, der Kinder hat, weiß: so viele Dinge wir unseren Kindern auch beibringen, so viel lernen wir selbst. Wir sind auch die Schüler unserer Kinder. Sie lehren uns. Und bei Songs ist es dasselbe. Ich schreibe die Songs nicht so sehr, wie Songs mich schreiben. Sie schreiben mich, sie schreiben mein Leben. Als ich Like A Hobo geschrieben habe, wusste ich nicht, dass der Song mein Leben so verändern würde, wie er das getan hat. Er hat mein Leben geschrieben.

The Weekend ist ein „Gute-Laune-Song“, es geht ums Tanzen und darum Spaß zu haben. Warum hast du diesen Song als erste Single gewählt?

Ich habe ihn als erste Single gewählt, weil ich etwas Spaß zurück in die Musik bringen wollte. Ich wollte nicht so ernst sein. Zwar ist das Album eher tiefgründig, aber ich denke, es ist wichtig auch Spaß zu haben. Es ist gut, tiefgründig zu sein, aber es ist auch gut, kindisch zu sein. Und dieser Song wurde von meinen Kindern inspiriert. Es ist wirklich lustig, dass die Leute denken, ich spreche dabei über Erwachsene, die am Wochenende ausgehen und sich betrinken. Aber in Wirklichkeit geht es eher darum Vater zu werden (lacht). Ich habe mir nie Gedanken über die Woche, oder das Wochenende gemacht. Wenn deine Kinder allerdings zur Schule gehen, wird es sehr präsent, wann ein Wochentag oder wann Wochenende ist. Und an den Wochenenden spielen wir im Haus Musik und sie tanzen einfach. Manchmal um 06:30 Uhr am Morgen.

Verändert sich dein persönliches Gefühl einem Song gegenüber manchmal nachdem er veröffentlicht wurde?

Manchmal tut es das. Das interessanteste daran ist, dass bestimmte Leute bestimmte Songs auf eine Art auffassen, die ich nicht erwartet hätte. Ich schreibe einen Song und habe ein bestimmtes Gefühl, eine bestimmte Vorstellung davon, wie er aufgenommen werden würde. Und dann wird er völlig anders aufgefasst. Das kann besser, oder das kann schlechter sein, oder einfach nur anders. 

Wo sich Songs für mich tatsächlich verändern, ist auf der Bühne, wo ich herausfinde wie sehr ich mit ihnen spielen kann. Manche Songs spiele ich nicht so häufig, weil ich nicht wirklich viel mit ihnen herumspielen kann. Und andere Songs sind da offener und lassen mich alle möglichen Dinge ausprobieren. Ich denke, in dieser Hinsicht können sie sich verändern. Like A Hobo ist ein perfektes Beispiel: glücklicherweise ist es ein Song, den ich schon immer sehr gerne gespielt habe und er gibt mir immer wieder das gleiche Gefühl, wenn ich ihn spiele.

Hut und Anzug gelten als dein Markenzeichen. Dient dir das als eine Art Uniform für den „Bühnen-Charlie“, oder trägst du das auch gerne privat?

Früher war es so, da war ich die ganze Zeit diese Figur. Aber nachdem Like A Hobo zu einem so großen Erfolg geworden war, hatte ich immer mehr das Gefühl, dass ich einen Ausweg brauche. Ich konnte nicht die ganze Zeit diese Person sein. Wenn ich professionell diese Figur bin, ist es okay, aber ich wollte sie auch außerhalb meines Berufslebens sein. Es ist seltsam (lacht) ... denn manchmal fragte mich meine Familie "Warum trägst du deine Arbeitskleidung?". Für mich war es nie meine Arbeitskleidung. Es war einfach nur die Kleidung, die ich trug. Aber jetzt macht es mir wirklich Spaß diese Unterscheidung zu haben. Wenn ich also auf die Bühne gehe, bin ich diese Figur und ich bin diese Person. Natürlich bin ich es, aber ich bin es mit einer bestimmten Art von Filter. Eine Art Weitwinkel, mit dem ich die Welt betrachte. Und es ist meine Welt. Aber wenn ich nach Hause komme, ist es nicht nur meine Welt, sondern auch die Welt meiner Familie. Es ist schön, dieses Kostüm auszuziehen und einfach nur Charlie Gleave (Anm. d. Red.​: sein bürgerlicher Name lautet Charlie Winston Gleave) zu werden. Ich wurde ja nicht mit einem Hut geboren. 

Ich trage diese Kleidung, weil ich früher in London gelebt habe und diese Gegend dort sehr karibisch geprägt war. Ich habe dort all diese alten Männer gesehen, karibische Typen, die jeden Tag mit Anzug und Hut herum gelaufen sind. Ich habe es einfach geliebt, wie sie sich kleideten! So elegant. Das war es, was mich inspiriert hat. Es war allerdings auch die Zeit, in der ich begann solo aufzutreten. Wie die Menschen aussehen, kann einen großen Eindruck hinterlassen. Also wollte ich mich für die Bühne angemessen anziehen. Am Anfang war ich schon ein bisschen der "Bühnenmensch", aber ich lüge nicht gern, deshalb war es für mich wichtig, die ganze Zeit dieser Mensch zu sein. Ich wollte keine Bühnenfigur sein. Ich liebte die Filme mit Humphrey Bogart, Frank Sinatra, Fred Astaire, Charlie Chaplin... Ich bin mit all dem aufgewachsen. Es war irgendwie die offensichtlichste Richtung, in die ich gehen konnte.

​​​​​​Foto: Alterna2

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