Stadtgespräch
15.05.2014 hunderttausend.de Veranstalter
"Ich bin ein Kontinent"

Von Fesseln und Entfesselung

​​​​​Das bewegtbildtheater von Johannes Conen und Martina Roth ist der erfolgreichste Theaterexport, den Trier vorzuweisen hat: Die Produktionen des Regisseurs und der Schauspielerin entstehen in einem Atelier im Trierer Hafen und gehen von dort auf Reise durch Deutschland und Europa. Am Donnerstag, 22. Mai, findet in der Tuchfabrik die Uraufführung ihrer jüngsten Inszenierung statt: "Ich bin ein Kontinent" erzählt das Schicksal der jüdischen Schriftstellerin Gertrud Kolmar.

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​Weit nach Mitternacht, wenn die Nachbarn polternd von ihren Zechtouren zurückkehren, setzt die Schriftstellerin sich an den Schreibtisch und beginnt zu arbeiten. Wie ein Kind, das es zur Welt zu bringen gilt, schreibt sie sich Stück für Stück ihrem letzten Werk entgegen. Nur wenige Stunden bleiben ihr jede Nacht, bevor sie todmüde zur Zwangsarbeit in der Fabrik abkommandiert wird. "Dabei bin ich sehr müde, fühle mich elend, habe wohl auch Kopfschmerzen, kurz alle Anzeichen eines Katers, wie nach einer nächtlichen Ausschweifung, die es ja auch ist", schreibt sie an ihre Schwester.

Gudrun Colmar war Erzieherin, hochtalentierte Lyrikerin – und als Jüdin im Visier der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Auch als die Zeichen der Zeit unübersehbar wurden, blieb sie in Berlin, an der Seite ihres Vaters. Die Warnungen ihrer längst emigrierten Geschwister prallten an ihr ab: 1943 fand sie in Auschwitz ihren Tod.

Das Schicksal dieser Künstlerpersönlichkeit, die von ihren Freunden gerne als "rebellische Melancholikerin" beschrieben wurde, hat die Theatermacher Johannes Conen und Martina Roth elektrisiert und zu einem Stück inspiriert. Nach ihrer Produktion "Herzkeime", mit der sie im Jahr 2011 die achtzehnjährig gestorbene jüdische Schriftstellerin Selma Meerbaum-Eisinger ehrten, ist "Ich bin ein Kontinent" der zweite Teil der Trilogie "Vergessene Dichterinnen". "Ich war völlig fasziniert von der Sprachgewalt und den Bilderwelten, die sich in den Werken auftun", erklärt Martina Roth, die den Abend alleine auf der Bühne bestreitet.

Das dramaturgische Gerüst des Abends ist die Handlung des Romans "Susanna", jenes letzten Prosawerks der Dichterin, das sie in den Nachtstunden des Winters 1939/40 schrieb. "Susanna" erzählt die Geschichte einer Erzieherin, die einer gemütskranken jungen Frau, Susanna, an die Seite gestellt wird. "Heute würde man vermutlich eine leichte Form von Autismus diagnostizieren", sagt Regisseur Johannes Conen. In der damaligen Zeit war die junge Frau aber in erster Linie entrechtet, entmündigt und als unzurechnungsfähig verrufen. Dennoch fordert sie das Recht auf Liebe und Sinnlichkeit zu einem Mann ein – und findet in diesem Versuch ihr tragisches Ende.

Getrud Kolmar, die selbst Erzieherin war, hat den Figuren des Romans auch vieles von sich selbst eingewoben. Diesen Umstand erhebt die Inszenierung zum Prinzip: Zwei Frauenfiguren, beide gespielt von Martina Roth, spiegeln die Dichterin und bilden ihre inneren Dialoge als Gespräche auf der Bühne ab. Susanna als reale Figur auf der Bühne, die Erzieherin als Charakter auf der Leinwand. Mit diesem Kunstgriff, der das Alleinstellungsmerkmal des bewegtbildtheaters ist, wird "Ich bin ein Kontinent" zu einer tragikomischen und poetischen Innensicht der Dichterin Gertrud Kolmar, in deren Brust zwei Herzen schlugen: Dienerschaft und Rebellion, Resignation und Wut, bürgerliche Fesseln und entfesselte Hingabe.

Das minutiöse Timing und die nicht nur technische Raffinesse, die diese Form von Theater erfordert, hat Conen und Roth längst weit über die Region hinaus bekannt gemacht. Ihre Produktionen werden ihnen mittlerweile förmlich aus den Händen gerissen: Ob "Antigone.Stimmen", "Herzkeime" oder "Staub" - aus ganz Deutschland und dem europäischen Ausland kommen Anfragen nach den Stücken, die in dem Atelier im Trierer Hafen entstehen. Ein Gastspiel von "Herzkeime" führte sie im letzten Jahr bis in das ukrainische Czernowitz, den Geburtsort von Selma Meerbaum-Eisinger. "Man hatte uns vorher schon eingestimmt, dass wir nicht mit mehr als 80 Zuschauern rechnen sollten", erinnert sich Conen. "Aber vor der Aufführung füllte der Raum sich immer weiter und weiter – am Ende standen hunderte von Zuschauen dicht gedrängt bis in die letzte Ecke des Theaters. Die Atmosphäre dieses Abends werden wir unser Leben lang nicht vergessen".


Das Trierer Publikum muss nicht weit reisen, um sich ein Bild der neuesten Kreation des Theaterduos zu machen: "Ich bin ein Kontinent" feiert am 22. Mai Uraufführung im kleinen Saal der Tuchfabrik. Weitere Vorstellungen: 23. und 24. Mai, jeweils um 20:00 Uhr.

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